Autor: Mieczysław Guzewicz,
"Liebt einander!" 1/2009 → Familie
Eines der wichtigsten Probleme, die uns das geistige Leben wesentlich
erschweren und Einfluss auf viele andere Ebenen in unserem Leben nehmen,
ist das Nicht-Verzeihen. Als Eheleute wissen wir sehr wohl, wie schwer
es ist, innerhalb unserer Beziehung damit umzugehen.
Verletzungen durch Worte oder Einstellungen können sogar mehrmals täglich
passieren. Wie reagiert man in solchen Situationen? Wo kann man Hilfe
finden? Ich denke, dass es am einfachsten ist, wenn man zum Wort Gottes
greift und hört, was Jesus dazu zu sagen hat: “Da trat Petrus zu ihm und
fragte: Herr, wie oft muss ich meinem Bruder vergeben, wenn er sich gegen
mich versündigt? Siebenmal? Jesus sagte zu ihm: Nicht siebenmal, sondern
siebenundsiebzigmal” (Matthäus
18, 21-22).
In allen Kulturen des Altertums war die Zahl Sieben heilig. Im Alten
Testament sind die Worte “Vollkommenheit” und “Sieben” von gleicher Bedeutung.
Die Vollkommenheit der Sieben resultiert auch aus ihrer Unteilbarkeit.
In der Bibel bezeichnet die Sieben hauptsächlich den Schöpfungsakt - die
Schöpfung wird in Ganzheit und Fülle vollbracht, sie ist vollkommen und
muss nicht verbessert werden. Der Mensch steht lediglich vor der Aufgabe,
die Schöpfung zu entdecken und sie zu nutzen.
Entsprechend dieser Bedeutung heißt siebenmal verzeihen soviel wie vollkommen
verzeihen, das bedeutet: immer, andauernd, vor allem vollständig, gänzlich
- so, dass nach einer Verletzung keine Spur mehr davon übrig bleibt, auch
nicht im Gedächtnis. Vollkommen verzeihen bedeutet vergessen, niemals
mehr darauf zurückkommen (Dies bedeutet nicht, dass eine Vergebung bei
einem Verbrechen die Strafe aufhebt, denn diese bleibt bestehen). Es bedeutet
auch, aufs Neue zu lieben, keine Entschuldigungen und Wiedergutmachungen
zu erwarten, sondern mit einer opferbereiten Liebe entgegenzukommen, mit
einer Liebe, die das Böse nicht nachträgt, alles erträgt, allem standhält
(Erster Korintherbrief 13).
Dies ist eine Einstellung, die sehr schwer umzusetzen ist, menschlich
gesehen eigentlich unmöglich ist, aber mit Jesus doch machbar wird, wenn
man sich vollkommen für die Gnade Gottes öffnet, vielleicht sogar durch
ein Wunder, auf übernatürliche Art und Weise. Die Frage des Petrus zeugt
von Reife. Zweifellos kennt er die Bedeutung der Zahl Sieben, deshalb
stellt er die Frage, wie man es anstellt, vollkommen, gänzlich zu verzeihen,
der Symbolik dieser Zahl gemäß. Sicherlich bringt er auch dadurch seine
Zweifel zum Ausdruck, ob so eine Vergebung überhaupt möglich ist. Er hat
den Meister bei sich und nutzt die Gelegenheit. Petrus hat schon viel
gelernt, versteht vieles, einiges ist aber noch unklar. Er hörte ja schon,
dass man das Böse nicht mit Bösem vergelten, sondern die andere Wange
hinhalten soll. Er hat auch erfahren, dass der Anfang der Vergebung im
Gebet für den, der verletzt, besteht. Solch eine Einstellung scheint jedoch
unerreichbar zu sein. Das Verlangen nach Vergeltung und Gerechtigkeit
ist nur allzu menschlich. Jesus sagte auch noch, dass man das wahre Glück
nur dann erlangt, wenn man alle Widerstände in Demut annimmt: “Selig,
die hungern und dursten nach der Gerechtigkeit; denn sie werden satt werden.
(…) Selig seid ihr, wenn ihr um meinetwillen beschimpft und verfolgt und
auf alle mögliche Weise verleumdet werdet” (Matthäus
5, 6; 5, 11).
Petrus fühlt, dass es ihm fast gelingt, doch er spürt seine Schwäche,
er weiß, dass er die Feinseligkeiten anderer nur schwer erträgt. Er überlegt,
ob es eine Grenze für die Kompromissbereitschaft, die Zugeständnisse und
die Gebete für die Feinde gibt. Vielleicht kann man all dies nur bis zu
einem bestimmten Moment tun.
Jesus lobt Petrus für seine weise Frage. In seiner Antwort jedoch belehrt
er den bekümmerten Schüler darüber, dass man bei der Problematik von Verletzung
und Vergebung die Logik außen vor lassen muss. Jesus verlagert das Gespräch
auf eine andere Ebene. “Siebenundsiebzigmal” heißt: vergeben, ohne zu
zählen, ohne zu kalkulieren, entgegen all dem, was die Logik uns eingibt.
Die erste Frage des Petrus war sehr rational. Er bat um ein einfaches
Rezept, was man sich leicht merken und umsetzen könnte. Regeln sind ja
meistens logisch und kompakt. Jesus verlässt diese Ebene, ohne auf sie
einzugehen. Er sagt, dass wenn man siebenundsiebzigmal vergibt, man dann
nicht nur vergibt, sondern sein Leben für denjenigen hingibt, der verletzt.
Man riskiert nicht sein Leben, sondern gibt es hin, ohne darüber nachzudenken.
Sicherlich konnte solch eine Antwort in diesem Augenblick nicht verstanden
werden. Doch andere Worte des Meisters wie: “Wer mein Jünger sein will,
der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach”
(Markus 8, 34), sein Opfer am Kreuz
und seine Vergebung, als Petrus ihn verriet, haben die Apostel im Laufe
der Zeit den Sinn des Gesagten verstehen lassen.
Was können Eheleute daraus für sich schließen? Sicherlich kann man es
sich schon denken. In der Ehe ist kein Platz für Berechnungen, wie oft
man schon vergeben hat und dauernde Erinnerungen daran, dass man doch
immer wieder verzeiht. Es kann auch keinen Platz für die Überlegung geben,
ob man durch seine Vergebung den Partner verdirbt, der nach einiger Zeit
anfangen könnte, die Naivität und unendliche Nachgiebigkeit der Ehefrau
oder des Ehemannes auszunutzen. Das sind menschliche Berechnungen und
Ängste. Sie sind wahr, logisch und nicht grundlos. Jesus aber sagt: “Zähle
nicht, grüble über das Ergebnis deiner Vergebung nicht nach, denke nicht
daran, welche Wirkung die Vergebung auf deinen Ehegatten haben könnte”.
Wenn es um die Verletzungen innerhalb der Ehe geht und die Eheleute sich
die Frage nach den Grenzen ihrer Kompromissbereitschaft und Nachgiebigkeit
stellen, hören sie: “Liebe deinen Mann, deine Frau, trotz aller Leiden,
bete unaufhörlich für ihn, für sie, besonders dann, wenn er oder sie dich
verletzt hat; denke nicht an Vergeltung, sondern nehme auch weitere Verletzungen
demütig hin. Wenn du fühlst, dass du keine Kraft mehr hast, und dich fragst,
wie lange du dies noch ertragen sollst, dann sage dir, dass du aushältst
bis zum Ende, bis du dein Leben für ihn, für sie, hingegeben hast, dass
du bereit bist, auch das Schlimmste anzunehmen, sich selber zu sterben,
keinen Groll zu empfinden, alle Leiden für ihn oder für sie aufzuopfern.”
Du wirst dann die Worte vernehmen, dass solch eine Einstellung zum Glück
in der Ehe führt, denn selig sind die, die alle Verfolgungen ertragen.
Je größer und schmerzhafter diese sind, desto größer ist das Glück. Was
für ein schockierender Widerspruch! Dabei gibt es doch kein größeres Leiden
als das, was einem die geliebteste Person antut.
Das ist ein Vorschlag, der keinerlei Logik und Rationalität unterliegt.
Wir hören oft: “Lass ihn (sie) doch gehen, warum quälst du dich mit ihm
(ihr)?” Dieser Ratschlag wird nur allzu oft befolgt; wir gehen, verlassen,
schmeißen raus … Das ist menschlich. Jesus schlägt uns aber eine Lösung
vor, die nicht menschlich ist, und von vielen in der Welt sogar als unklug
bezeichnet wird. Er schlägt eine Lösung vor und bietet Hilfe an. Petrus
hat es nicht gleich verstanden, erst aus der Perspektive des Osterereignisses
heraus konnte er sein Unverständnis beseitigen. Diese Perspektive hat
ihm eine andere Lösung gezeigt, die man nicht überdenken, sondern verwirklichen
sollte. Jesus hat nicht gesagt: “Nehmt, esst und versteht, was ich tue.”
Er sagte: “Nehmt, das ist mein Leib” (Markus
14, 22), tut es und versucht nicht, es zu begreifen. Jesus hat ganz konkret
gezeigt, wie man die biblischen Ideale umsetzt, auf denen jede Ehe aufgebaut
sein sollte. Er hat uns daran erinnert, dass man ohne Ihn nichts tun kann.
Er meinte dabei nicht “verstehen”, sondern “tun”. Jesus sagte, dass es
nicht darum geht, Ihn zu verstehen. Es geht um die Verwirklichung der
Prinzipien und nicht um ihr Verständnis.
Wir sollten auch nicht vergessen, dass aus der Perspektive des ewigen
Lebens - und solch eine Perspektive sollte jeder gläubige Mensch vor Augen
haben - die bedingungslose Vergebung aller Verletzungen, die uns andere
zugefügt haben (in der Ehe besonders der Ehepartner), als Bedingung für
die erwartete Barmherzigkeit Gottes zu verstehen ist: “Denn wenn ihr den
Menschen ihre Verfehlungen vergebt, dann wird euer himmlischer Vater auch
euch vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, dann wird euer
Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben” (Matthäus
6, 14-15).
Die Quelle, aus der man die Kraft für ein opferbereites Leben und für
die Vergebung schöpft, befindet sich in der Eucharistie. In ihr findet
sich die Kernaussage: “(…) denn getrennt von mir könnt ihr nichts vollbringen”
(Johannes 15, 5). Ohne den Leib
des Herrn ist man nicht in der Lage, die Einstellung der vollkommenen
Vergebung in die Tat umzusetzen und sein Leben für seinen Ehegatten hinzugeben.
Ohne den Herrn ist man nicht in der Lage, überhaupt irgendeinen Punkt
aus dem Ehegelübde zu verwirklichen.