Autor: Teresa Tyszkiewicz,
"Liebt einander!" 2/2009 → Katholische Kirche
Die Kirche spricht zur Welt durch ihre Mitarbeiter. In jedem
Zeitabschnitt der Geschichte berief der Heilige Geist, der die Kirche
leitet, einzelne Menschen zu verschiedenen Aufgaben, Werken und Missionen.
Es handelte sich dabei um Schriftsteller, Politiker, Missionare, stille
Betreuer der Ärmsten … Von einigen hörte die ganze Welt, von anderen hörte
niemand – bis ihre Werke für sie sprachen. All diese Gestalten sind uns
als sprechende Zeichen für diesen Augenblick gegeben, als Antworten Gottes
auf die modernen Probleme. Eine dieser großen Gestalten war der am 5.
August des Jahres 2007 verstorbene Kardinal Jean-Marie Lustiger, der über
lange Jahre hinweg Erzbischof von Paris war.
Die Wurzeln
Die Familie Lustiger stammte aus dem schlesischen Bedzin, das von vielen
Juden, die seit Generationen in der Stadt lebten und sich mittlerweile
als Polen fühlten, bewohnt war. Der Großvater des Kardinals war Bäcker.
Die familiäre Tradition, die genauestens überliefert wurde, rechnete die
Lustigers dem Stamm Levi zu. Der 20 jährige Karl, der Sohn des Bäckers,
wollte sein Glück jedoch woanders versuchen und übersiedelte im Jahre
1917 nach Magdeburg und ein Jahr später nach Paris, wo er sich niederließ.
Dort lernte er Giselle, ein aus Bedzin stammendes Mädchen kennen und heiratete
sie. Am 17. September 1926 kam Sohn Aaron auf die Welt, vier Jahre später
Tochter Arlette.
Die Familie war agnostisch und liberal, aber nicht atheistisch. Beide
Elternteile hatten Angst davor, in der Atmosphäre des jüdischen, von Immigranten
geprägten Gettos zu verbleiben; sie bemühten sich, ihre Kinder im Geist
der bereichernden französischen Kultur und Geisteswelt zu erziehen, deshalb
schickten sie diese auf die besten Schulen. Aaron war nicht der beste
Schüler, seine Pflichten erledigte er erst in der letzten Minute, liebte
jedoch Bücher, las Belletristik und manchmal auch philosophische Werke.
„Ich wurde von meinen Eltern dazu erzogen, mein Land (Frankreich) zu lieben,
stolz auf meine Staatsbürgerschaft zu sein, das Gute und das Wahre zu
lieben – das sind freudige Tugenden, an die ich glaubte und immer noch
glaube“, sagte der Kardinal viele Jahre später, „Wir waren eine glückliche
und fröhliche Familie“. Der Vater Jean-Marie Lustigers liebte Späße, seine
Mutter war eine wunderschöne, elegante Dame. Die Lustigers waren wohlhabend.
Weil er wollte, dass sein Sohn auch die deutsche Sprache beherrschte,
schickte Karl Lustiger diesen zwei Mal für eine längere Zeit nach Deutschland
(1936 und 1937), dabei war ihm wohl bewusst, wie unerbittlich die antisemitische
Politik der Nazi-Regierung in diesem Land war.
Lichtblicke
In den Jahren 1936 – 1938 rückte die Bibel an die Spitze der Lektüre
Aarons. Für den damals 10 jährigen Jungen wurde sie zur Entdeckung der
Handlungsweise Gottes in der Geschichte des Volkes, das sein Volk war.
Er sah keinen Unterschied zwischen dem Alten und dem Neuen Testament –
es war eine Geschichte, in der das auserwählte Volk leidet und in der
auch der Messias leidet, der von Gott zu diesem Volk gesandt wurde.
Da tauchten Probleme auf: Man brauchte die Einwilligung des Ortsbischofs,
weil es um die Taufe eines erwachsenen Menschen ging. Der Bischof war
einverstanden und vertraute dem Prälaten Courcoux die Taufvorbereitungen
Aarons und seiner Schwester, denn auch sie wollte getauft werden, an.
Da beide noch nicht volljährig waren, brauchte man die Zustimmung der
Eltern, diese aber zeigten sich empört. Dem Judaismus den Rücken kehren
– das ist der größte Schlag für eine jüdische Familie. Die Lustigers holten
daraufhin ihre Kinder sofort nach Paris zurück. Allerdings nur für eine
kurze Zeit, denn die politischen Ereignisse überschlugen sich.
Die Jagd auf Juden hörte jedoch nicht auf, im Gegenteil – sie nahm immer
mehr zu. Jean-Marie musste immer wieder seinen Aufenthaltsort wechseln,
wobei ihm Geistliche und Widerstandskämpfer behilflich waren.
Die akademische Seelsorge
Nach der Befreiung Frankreichs im Jahre 1944 kehrten die Lustigers nach
Paris zurück. Jean-Marie schrieb sich an der Sorbonne ein, wo er ein humanistisches
Studium aufnahm. Das akademische Umfeld in Paris besaß damals ein dynamisches,
modernes Seelsorgezentrum mit der Bezeichnung „Centre Richelieu“. Dort
bildete sich bei der Teilnahme an Messfeiern, Diskussionen, Minisynoden,
Wallfahrten und Feiern die Grundeinstellung eines bewussten, aktiven,
intellektuell und evangelisch tiefgründigen, weltlichen Apostolats. Nach
zwei Studienjahren und der Formation im Seelsorgezentrum trat Jean-Marie
Lustiger zusammen mit zwei Freunden in ein Priesterseminar ein. Sein Vater
war entschieden dagegen: Der junge Mann musste seine aktuelle Adresse
geheim halten, was dazu führte, dass Sohn und Vater sich zwei Jahre lang
nicht sahen.
Für Jean-Marie war seine Berufung zum Priestertum mit einer besonderen
Motivation verbunden, da er dem Stamm Levi entstammte, welcher dem Willen
Jahwes zufolge, der Moses offenbart worden war, das Privileg zugesprochen
bekam, Gott im Tempel zu dienen, die heiligen Bräuche zu erfüllen und
Opfergaben zu bringen. Es war der Priesterstamm. Sieben Jahre des Studiums
im Priesterseminar schafften eine solide theologische Grundlage, die der
junge Kleriker noch mehr mit der Entwicklung seines persönlichen, geistigen
Lebens verbunden wissen wollte. Der Konflikt zwischen Vernunft und Glauben,
der im akademischen Umfeld aufgekommen war und in Diskussionen immer wiederkehrte,
absorbierte ihn sehr.
Während einer Studentenwallfahrt ins Heilige Land im Jahre 1951, in einem
Augenblick des einsamen Gebetes, mit dem Kopf an den Grabstein Christi
gelehnt, traf Jean-Marie eine endgültige Entscheidung: „Die verstandesmäßigen
Prämissen, die dafür oder dagegen sprechen, die Intuition, haben jeweils
unterschiedliches Gewicht, aber sie lösen nichts. Entscheidend ist meine
persönliche Beziehung zu Demjenigen, in Dem ich mich geschaffen, berufen,
erlöst, geliebt und begabt sehe; durch die Gabe, zum Zeugen all dessen
zu werden, was ich von Ihm erhalten habe.“
In der Osternacht des Jahres 1950 wurde Jean Marie Lustiger aus dem Stamm
Levi in der Kapelle der Karmeliter in Paris zum Priester geweiht. Ganz
hinten in der Kapelle, verborgen im Schatten, stand sein Vater, der im
letzten Augenblick seinen Widerstand aufgegeben hatte.
Dem Neopresbyter wurde die akademische Seelsorge zugewiesen. Und so erinnert
sich eine seiner Studentinnen an ihn: „Ein Mensch, der eine große Ausstrahlung
und Persönlichkeit hatte, fröhlich, autoritativ, ein Choleriker, ein Enthusiast,
ein Neugieriger, der seine Zeit liebte, naiv, anspruchsvoll, den Armen
und Demütigen nah – er war dies alles.“
Schon zu Beginn seines Priesterlebens sah Lustiger die antichristlichen
Tendenzen der Epoche, in der er lebte: den Fortschritt der Wissenschaften,
der dazu verführte, die Glaubenswahrheiten in Zweifel zu ziehen und die
religiösen Praktiken zu verwerfen, den Materialismus und das Konsum-Denken,
das den Menschen völlig absorbierende Streben nach Geld, die Gleichgültigkeit
gegenüber geistlichen Dingen, die unterschiedlichsten philosophischen
und gesellschaftlichen Trends. Seit seinem Studienbeginn im Jahre 1944
befand sich Lustiger im intellektuellen und gesellschaftlichen Schmelztiegel,
gezwungen, für sich und andere Menschen Antworten zu finden. Doch er wurde
dabei von einer charismatischen Intuition geleitet, die ihn seine Zeit
verstehen ließ, und er wusste, dass es eine endgültige Antwort gibt: Jesus
Christus.
Der würdige Sohn aus dem Priesterstamm
Nach zehnjähriger Arbeit im akademischen Umfeld wurde Jean-Marie Lustiger
zum Pfarrer der Gemeinde St. Jeanne de Chantal in Paris ernannt. Drei
Jahre zuvor war das II. Vatikanische Konzil zu Ende gegangen, ein Jahr
zuvor war Paris von einer Welle von studentischen Streiks und Ausschreitungen
überflutet worden. Es ging darum, die Lehre des Konzils den vielen Einwohnern
der Millionen-Metropole Paris näherzubringen, also denjenigen Menschen,
die vom immer schnelleren Tempo des Lebens, Konflikten, Umwälzungen, Migrationen
beherrscht wurden und die sich ökonomisch, ethnisch und weltanschaulich
veränderten … Der neue Pfarrer fühlte, dass seine Rolle nicht darin bestand,
die Probleme des Diesseits zu lösen und aufzuzeigen, wie man gut und ruhig
leben kann. Er sollte auf Jesus Christus zeigen – den einzigen Schatz,
der würdig ist, das Herz des Menschen an sich zu ziehen und es in Besitz
zu nehmen.
Schon in Kürze zogen die Gottesdienste und Predigten des neuen Pfarrers
Tausende von Gläubigen an. Er sprach in einer neuen Weise und entschärfte
die Radikalität des Evangeliums nicht. Die Kirche der hl. Jeanne platzte
aus allen Nähten.
Unter den Augen des Pfarrers, des Bischofs und schließlich des Kardinals
entfernte sich West-Europa immer mehr von Gott und hatte dadurch die elenden
Auswirkungen zu tragen, die das Verschleudern seines Teils der Erbschaft
zufolge hatte. Frankreich, die erste Tochter der Kirche, wurde gleich
dem verlorenen Sohn zu einem Beispiel dafür. Kardinal Lustiger fühlte
sich sicherlich viele Male wie der liebende Vater aus dem Gleichnis Jesu,
der mit Sehnsucht auf die Anzeichen einer Rückkehr wartet. Er zweifelte
jedoch niemals daran, dass es eine Rückkehr geben wird.
Einer seiner weltlichen Mitarbeiter schilderte ihn folgendermaßen: „(…)
schlicht, außergewöhnlich intelligent, empfindsam und sehr menschlich.
Vor allem jedoch um das Wohl der anderen besorgt. Ein natürliches Wohlwollen,
ehrlich, tiefgründig. Aber auch ein eiserner Wille … so einer, der Berge
versetzt. Keine Schwierigkeit war für ihn dermaßen real oder groß, dass
sie ihn hätte bremsen oder aufhalten können. Im Gegenteil – es gab bei
ihm so etwas wie Freude an Schwierigkeiten.“ Er sah schon das Aufgehen
der Saat, die von Johannes Paul. II gestreut worden war.
Kardinal Lustiger versuchte niemals, seine Abstammung zu verheimlichen.
Dank seiner Wurzeln hatte er besondere Verdienste beim Dialog der Kirche
mit dem Judaismus. Er schöpfte auch Inspirationen aus der Geschichte seines
Volkes: die sich immer wiederholende Abkehr von Jahwe und Seinen Geboten
zugunsten anderer Götzen, die Warnungen und Strafen, die Rückkehr, verbunden
mit der Bitte um Barmherzigkeit, und jedes Mal die Vergebung Gottes mit
Verheißungen an das geliebte Volk. Der Kardinal übertrug diese Erfahrungen
Israels auf die Geschichte der Kirche, mit dem Unterschied, dass sich
für die Kirche das größte Versprechen bereits erfüllt hat: der Messias,
der bereits gekommen ist. Und in Ihm werden sich auch alle anderen Verheißungen
erfüllen.
Jean-Marie Lustiger wurde durch seine Persönlichkeit und seine Lehre
zum Verkünder des sich wiederholenden Advents in der Geschichte der Welt;
wenn wir auf die Erfüllung der Verheißungen Gottes warten, jedoch nicht
tatenlos zuschauend, sondern dynamisch, fröhlich, vertrauensvoll, tätig,
erfüllt mit Dankbarkeit für all das, was bereits eingetroffen ist. Alle
Pläne Gottes erfüllen sich.
Nach 24 Jahren Dienst in der Kirche als Erzbischof von Paris setzte sich
Jean-Marie Lustiger zur Ruhe, führte aber weiterhin Exerzitien und lehrte.
Er starb am Vorabend der Verklärung Christi im Jahre 2007. Man trug ihn
mit großem Schmerz, aber auch mit Stolz – als einen großen Mann der französischen
Kirche, ja der ganzen Kirche - zu Grabe.
Teresa Tyszkiewicz
Quelle: Robert Serrou: Lustiger „Cardinal, juif et
fils d’immigre“. Perrin 2001.